Gastbeitrag

Sanfte Strategien, starke Veränderungen

Die Architektin und Stadtplanerin Sol Camacho, Gründerin und Leiterin von RADDAR, einer Firma in São Paulo und Mexiko-Stadt, über Architektur als Instrument des Wandels.

Verfasst von: Sol Camacho

29. Okt. 2024

6 minutes

Luftaufnahme des Parque Bicentenario in Ecatepec

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Während eines einwöchigen Seminars an der Architekturhochschule Escola da Cidade in São Paulo forderten meine Kolleginnen Gabriela Carrillo, Aisha Ballesteros, Loreta Castro und ich unsere Studentinnen und Studenten auf, über Architektur als Instrument des Wandels und als Objektiv, durch das sie die Welt kritisch betrachten sollten, nachzudenken.

Im Mittelpunkt des Gesprächs stand die Bedeutung zugänglicher kultureller und gemeinschaftlicher Orte. In Mexiko-Stadt und São Paulo, beides Städte, die ich mein Zuhause nenne, gibt es überwiegend abgeschottete Privatgebäude, die kaum in der Lage sind, sichere und wohlwollende menschliche Beziehungen zu beherbergen, zu unterstützen und zu fördern. Während des Seminars untersuchten wir Projekte, die sich auf Sanierung, Renovierung und Wiederverwendung konzentrieren und einen alternativen Ansatz bieten.

Zuerst stellten wir den Studierenden einige paradoxe Fragen:

  • Wie kann man Räume verdichten, ohne sie zu überfrachten?

  • Können wir Technologie nutzen, um menschliche Begegnungen im echten Leben zu fördern?

  • Können dezente Strukturen einen starken Einfluss auf Räume haben?

  • Kann temporäre Infrastruktur in unseren Städten dauerhafte Auswirkungen haben?

  • Können wir neue Orte schaffen, ohne mehr Gebäude zu errichten?

Rückblickend auf das Seminar habe ich darüber nachgedacht, wie die Arbeit meiner Mitdozentinnen sowie meine eigene Arbeit das widerspiegeln, was wir mit den Studentinnen und Studenten erörtert haben.

Ein Besprechungsraum im Firmensitz von JSa mit üppigen Grünpflanzen, Bücherregalen und raumhohen Fenstern

Projekte zur Sanierung und Umgestaltung

„In unserer kaputten gebauten Umwelt arbeiten wir alle rückwirkend“, so Loreta Castro. Ihre Sanierungsprojekte „Taller Capital” zeigen, wie großzügig Design sein kann, und wie transformativ es wirkt, wenn es konsequent angewendet wird. Das gilt für alle Maßstäbe, von großen öffentlichen Parks wie dem Parque Bicentenario in Ecatepec, Mexiko-Stadt, bis hin zu Innenräumen wie beim Umbau des Gemeindehauses von Iguala, das der Öffentlichkeit direkten Zugang zu seinen Gärten und seinem Auditorium bietet.

Dezente Strukturen, oder anders gesagt, sensible Eingriffe können in unseren kollektiven Räumen definitiv eine starke Wirkung haben. Mit sensibel meine ich strategisch, intelligent und effizient. Unter diesem Aspekt befasste sich unser Seminar mit dem SESC Pompeia. von Lina Bo Bardi. Sie konzipierte den Umbau einer alten Öltankfabrik in ein Gemeinschaftszentrum. Das SESC Pompeia wurde ohne Abriss gebaut, mit einfachen Wänden und innovativem Möbeldesign, und hat sich seit Jahrzehnten als Gemeindezentrum bewährt.

Veraltete oder ungenutzte große Strukturen bergen einige der interessantesten kreativen Möglichkeiten für Designerinnen und Designer.

Sol Camacho, Architektin

Reihen von Arbeitsplätzen mit Computern, roten Lampen und Arbeitsstühlen im Firmensitz von JSa in einem ehemaligen Industriegebäude mit großen Betonbalken
Innenansicht des Firmensitzes von JSa (ehemalige Eisfabrik). Mit freundlicher Genehmigung von JSa. Fotograf: Rafael Gamo.

Aisha Ballesteros' jüngste Umgestaltung einer Eisfabrik in eine Bürowerkstatt für ihre Firma JSa Arquitectos ist vom revolutionären Projekt „Lina SESC” inspiriert. JSa Arquitectos benötigte mehr Platz und ließ sich im Industriegebiet von Atlampa nieder. Obwohl das Viertel nur wenige Kilometer vom historischen Zentrum von Mexiko-Stadt entfernt liegt, ist es seit jeher unterversorgt. Das Projekt „Fabrica de Hielo” bietet dem Unternehmen nicht nur einen neuen Arbeitsplatz, sondern positioniert sich auch als Ort der Begegnung und des Lernens, ein soziales Zentrum, das der lokalen Gemeinschaft offen steht. All dies wurde erreicht, ohne die Grundfläche auszuweiten.

Gruppen von Menschen im Mehrzweckraum der SESC Pompeia Factory
Innenansicht des Mehrzweckraums in der SESC Pompeia Factory. Fotos mit freundlicher Genehmigung von RADDAR.
Gruppen von Menschen, die um einen großen Kamin im Mehrzweckraum der SESC Pompeia Factory sitzen

Gebäuden ein zweites Leben schenken

Veraltete oder ungenutzte große Strukturen bergen einige der interessantesten kreativen Möglichkeiten für Designerinnen und Designer. Mein Büro, RADDAR (Research as Design and Design as Research (Forschung als Design und Design als Forschung) – das Grundprinzip unserer Arbeit) hatte die Gelegenheit, mit solchen Gebäuden in der Nähe des Zentrums von São Paulo zu arbeiten, einschließlich kleinerer Einzelhandelsflächen.

Die Fassade des Restaurants „La Central” im COPAN-Gebäude
Fassade des Restaurants „La Central” im COPAN-Gebäude. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR. Fotografin: Vivi Spaco.

Ein Teil des Erdgeschosses des COPAN, des städtebaulichen Meisterwerks von Oscar Niemeyer, stand mehr als 20 Jahre lang leer, nachdem es in den 1970er Jahren eine Bankagentur beherbergt hatte. Unsere Aufgabe bestand darin, diesen nördlichsten Teil des Stockwerks zu renovieren, einschließlich einer 30 Meter langen Fassade, und das Innere zu einem modernen Restaurant umzugestalten. Wir ordneten das Restaurant um das wunderschöne Säulendesign des Gebäudes herum an und entwarfen eigens dafür Möbel. Seit der Renovierung hat sich der Bereich zu einem festen Bestandteil der täglichen urbanen Kulturszene São Paulos entwickelt.

Design kann nicht isoliert betrachtet werden, und Zusammenarbeit ist der Schlüssel zu neuen Ideen.

Sol Camacho, Architektin

Der Innenraum des Restaurants „La Central” im COPAN-Gebäude
Innenraum des Restaurants „La Central”. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR. Fotograf: Gui Gomes.

Das Projekt Itu House, ein verfallenes Lagergebäude, das in einen lebendigen Raum mit gemischter Nutzung umgewandelt wurde, ist ebenfalls das Ergebnis der Überzeugung, dass sanfte Strategien zu großen Veränderungen führen. Das Gebäude, das seit mehr als einem Jahrzehnt ungenutzt war und kurz vor dem Abriss stand, ist nun eine hybride Struktur, die die Normen für ein Haus in São Paulo in Frage stellt. Das Projekt verwischt auf zeitgemäße Weise die Vorstellungen von öffentlichen und privaten Räumen und schafft ein neues Verständnis von Gemeinschaft und Familie.

Eine Luftaufnahme der Außenansicht des Itu House von RADDAR in Brasilien
Itu House. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR. Fotografin: Maíra Acayaba.
Eine Luftaufnahme der Innenräume des Itu House von RADDAR in Brasilien

Instandsetzung eines geliebten Juwels für die Gemeinschaft

Auf ähnliche Weise hinterfragt unser Projekt Pacaembu die Stadiontypologie in unserer heutigen Stadt. Der Sportkomplex Pacaembu wurde ursprünglich in den späten 1930er Jahren in São Paulo als erstes großes Fußballstadion Brasiliens sowie als Raum für kommunale und kulturelle Aktivitäten gebaut. Als sich der Fußball zu einem Massenereignis entwickelte, mussten auch die Stadiongrößen damit Schritt halten. Infolgedessen wurde das Pacaembu zu einem zweitrangigen Stadion degradiert, und seine kulturellen und kommunalen Einrichtungen wurden abgerissen oder blieben ungenutzt.

Die riesige städtische Infrastruktur befand sich mitten in der Stadt, ohne dass ihr Potenzial genutzt wurde, und war von Abrissen, mangelnder Instandhaltung und schwerem Verfall gekennzeichnet. Doch aufgrund der Liebe der Fans und der geschätzten kollektiven Erinnerungen wurde das Stadion Pacaembu nicht ganz aufgegeben.

Eine Außenbaustelle, die den Renovierungsprozess des Sportkomplexes Pacaembu von RADDAR veranschaulicht
Renovierungsprozess des Sportkomplexes Pacaembu, São Paulo. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR. Fotograf: Yghor Boy.
Eine Baustelle, die den Renovierungsprozess der Tribünen des Sportkomplexes Pacaembu von RADDAR veranschaulicht
Renovierungsprozess des Sportkomplexes Pacaembu, São Paulo. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR. Fotograf: Yghor Boy.
Ein 3D-Rendering des Felds des Projektes „Sportkomplex Pacaembu” von RADDAR
Blick auf das Projekt „Sportkomplex Pacaembu”. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR.
Ein 3D-Rendering der Außenansicht des Sportkomplexprojektes Pacaembu von RADDAR
Blick auf das Projekt „Sportkomplex Pacaembu”. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR.
Ein 3D-Rendering der Tribünen des Projektes „Sportkomplex Pacaembu” von RADDAR
Modell des Sportkomplexes Pacaembu. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR. Fotograf: Yghor Boy.
Eine Innenausbaustelle, die den Renovierungsprozess des Tennisclubs des Sportkomplexes Pacaembu von RADDAR veranschaulicht
Renovierungsprozess des Tennisclubs des Pacaembu, São Paulo. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR. Fotograf: Yghor Boy.
Eine Außenbaustelle, die den Renovierungsprozess des Sportkomplexes Pacaembu von RADDAR veranschaulicht
Renovierungsprozess des Sportkomplexes Pacaembu, São Paulo. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR. Fotograf: Yghor Boy.
Eine Baustelle, die den Renovierungsprozess der Tribünen des Sportkomplexes Pacaembu von RADDAR veranschaulicht
Renovierungsprozess des Sportkomplexes Pacaembu, São Paulo. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR. Fotograf: Yghor Boy.
Ein 3D-Rendering des Felds des Projektes „Sportkomplex Pacaembu” von RADDAR
Blick auf das Projekt „Sportkomplex Pacaembu”. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR.
Ein 3D-Rendering der Außenansicht des Sportkomplexprojektes Pacaembu von RADDAR
Blick auf das Projekt „Sportkomplex Pacaembu”. Mit freundlicher Genehmigung von RADDAR.

In den letzten fünf Jahren haben wir an der Renovierung gearbeitet, die sich nun in einer fortgeschrittenen Bauphase befindet. Mit diesem Projekt, das in Form einer öffentlich-privaten Partnerschaft durchgeführt wird, haben wir das Stadion als alltäglichen Treffpunkt neu konzipiert. Das Ergebnis sind Gemeinschaftsräume, in denen man sich treffen kann – ein öffentliches Schwimmbad mit olympischen Maßen, Tennisplätze, Basketball- und Volleyballsporthallen, eine Laufbahn, ein Joggingpfad, Freizeiteinrichtungen, Restaurants und Orte zum Einkehren und Arbeiten. Das ganze Jahr über werden in dem Gebäude Veranstaltungen stattfinden, von großen Konzerten bis hin zu kleinen Aufführungen.

Das Ergebnis dieser groß angelegten Intervention wird eine einzigartige Typologie hervorbringen: Ein städtisches Mehrzweckzentrum mit einem professionellen Fußballplatz in der Mitte.

Ein neuer Ansatz für die Zukunft

Design kann nicht isoliert betrachtet werden, und Zusammenarbeit ist der Schlüssel zu neuen Ideen. Als Designprofis, Architektinnen und Architekten sowie Fachleute für die gebaute Umwelt sollten wir nach Orten und Möglichkeiten suchen, die die Gemeinschaft fördern, und diesen Gedanken in den Mittelpunkt unserer Entscheidungen stellen. Durch Sanierung, Umbau und Wiederverwendung können wir unsere Herangehensweise an Architektur verändern, was zu einem Dominoeffekt führt, der das Leben der Menschen, die mit unseren Projekten zu tun haben, positiv beeinflussen kann.

Über die Autorin

Sol Camacho ist Architektin und Stadtplanerin. Sie ist Gründerin und Leiterin von RADDAR, einem Architekturbüro mit Sitz in São Paulo und Mexiko-Stadt und war außerdem kulturelle Leiterin des Instituto Bardi/Casa de Vidro. Sie hat einen Bachelor in Architektur der Universidad Iberoamericana und einen Master in Architektur und Stadtplanung der Harvard University Graduate School of Design.

Architektin und Designerin Sol Camacho sitzt vor grünem Laub

Zusätzliche Bildnachweise

Erstes Bild:
Luftaufnahme des Parque Bicentenario in Ecatepec. Mit freundlicher Genehmigung von Taller Capital. Fotograf: Rafael Gamo.

Zweites Bild:
Innenansicht des Firmensitzes von JSa (ehemalige Eisfabrik). Mit freundlicher Genehmigung von JSa. Fotograf: Rafael Gamo.

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